Das Gedenkprojekt »Zachor! Erinnere Dich, Speyer« war ursprünglich als Beitrag während der Gedenkveranstaltung zum 9. November geplant. Es entstand in Zusammenarbeit und engem Austausch zwischen in der NS-Zeit verfolgten Mitbürgerinnen und Mitbürgern Speyers, ihren Familienangehörigen und der Initiatorin des Projekts Sabrina Albers.
Ihre Idee dahinter ist, nicht einfach über Familien und ihr Schicksal zu sprechen, sondern die betroffenen Personen selbst zu Wort kommen zu lassen und uns an ihrem Blick auf Antisemitismus in der Vergangenheit und der Gegenwart teilhaben zu lassen. Sabrina Albers sprach dazu mit Nofi Katz, deren Großvater Lazarus Scharff 1940 aus Speyer deportiert wurde, und deren Enkel Stav Elias. Außerdem tauschte sich Albers mit Yoram Millo, dessen Vater Franz Mühlhauser (Efraim Millo) die Flucht aus Speyer gelang, und dessen Sohn Ori Millo aus. 

Sabrina Albers ist im »Rosa Luxemburg-Club Speyer« und im »Bündnis für Demokratie und Zivilcourage Speyer« aktiv. Aufgrund ihres Einsatzes gegen Antisemitismus und Rassismus wurde sie im Januar 2020 zum Neujahrsempfang des Bundespräsidenten nach Berlin eingeladen. 

Statement von Ori Millo

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»Speyer ist meine Heimatstadt. Obwohl ich hier nicht geboren wurde, nicht aufwuchs oder hier gelebt habe. Mein Großvater hat es getan.
Franz Mühlhauser, Efraim Millo. 
In einer besseren Welt wäre mein Großvater in Speyer geblieben und hätte hier seine Familie gründen können, mich eigeschlossen. Dies ist jedoch nicht geschehen. Mein Großvater musste, wie viele Juden in Speyer und im übrigen Deutschland, aus seiner Heimat fliehen und seine Freunden und das Leben, das er sich in Speyer aufgebaut hatte, zurücklassen. Efraim floh Anfang November 1938 und kam wenige Tage vor dem 9. November, der sogenannten Kristallnacht, dem Novemberpogrom, nach Israel.
Die zeitliche Nähe zum Novemberpogrom macht das Datum der Flucht meines Großvaters in die Freiheit, etwas einzigartig – zwischen dem erleichterten Gefühl, dass er sicher war und der katastrophalen Tatsache, dass die Menschlichkeit innehielt und das organisierte Böse seinen Platz einnahm. Wann immer ich über diese Ereignisse nachdenke, werfen sie immer wieder die Frage auf: ›Was wäre wenn?‹

  • ›Was wäre, wenn mein Großvater noch ein paar Tage gewartet hätte?‹
  • ›Was wäre, wenn seine Familie mit ihm gegangen wäre?‹

Die Familie meines Großvaters ist nicht mit ihm geflohen. Seine Eltern Marie und Albert sowie seine 22-jährige Schwester Klara blieben in Speyer, in der Hoffnung, später wieder vereint zu werden. Marie war Teil der Familie Dreyfuss, einer Familie, die sehr stark am Stadtleben beteiligt war. Albert, der im schwäbischen Krumbach geboren und aufgewachsen ist, integrierte sich schnell. Er war sehr engagiert und wurde zum Vorsitzenden des Synagogenvorstandes gewählt. Der Synagoge, auf deren Ruinen wir jetzt stehen. Maries Vater Sigmund Dreyfuss gehörte einer großen und alteingesessenen Familie in Speyer an und führte in der Maximilianstraße  38  das erfolgreiche Textilgeschäft ›M. Dreyfuss & Söhne‹. 

Am 22. Oktober 1940 wurden Marie, Albert und Klara aus Speyer deportiert. Maries Schwester Hedwig und ihr Mann Jacob wurden ebenfalls wie alle Juden aus Rheinland-Pfalz deportiert. Zuerst ins Lager Gurs; im August 1942 wurden sie in Auschwitz ermordet. 
Sigmund gelang in der Nacht des Novemberpogroms die Flucht aus Speyer. Im Alter von 83 Jahren fand er sich alleine in Wiesbaden wieder. Sigmund nahm sich am Tag vor seiner geplanten Deportation in das Lager Theresienstadt das Leben.

Wir leben in einer Zeit, in der die vergangenen Ereignisse weit weg scheinen, fast so, als ob sie sich nicht auf uns beziehen oder uns betreffen. Das Gegenteil ist der Fall!
Die gegenwärtige Ära der Sozialen Medien macht es einfacher denn je Hass, Rassismus und Antisemitismus zu verbreiten und wir sehen, dass dies leider auch zu Taten führt.
Es ist die Pflicht und Verantwortung jedes Einzelnen, Rassismus und Antisemitismus aktiv entgegenzutreten, sei es, indem man entsprechende Beiträge in Sozialen Medien meldet, Quellen und Fakten veröffentlicht und Menschen um einen herum aufgeklärt. 
Die Stadt Speyer unternimmt bemerkenswerte Anstrengungen, um an den Holocaust und an die Leben, die er genommen hat zu erinnern, einschließlich des Lebens meiner Familie. Aktive Ehrenamtliche arbeiten auf verschiedene Weise, sie schreiben Bücher und Artikel, sie führen durch das jüdische Speyer, recherchieren in Archiven, führen gestohlene Gegenstände an Familien zurück und verlegen in den letzten Jahren auch Gedenksteine – Stolpersteine – in der ganzen Stadt. Wir durften die erste Familie in Speyer sein, für die Stolpersteine am Eingang des Hauses von Marie, Albert und Klara in der Hartmannstraße 26, heute Schraudolphstraße, verlegt wurden. 
Das gestattet Speyer eine gesunde Gesellschaft zu schaffen, in der meine Familie und ich uns als Teil fühlen können.
Denkt daran: Das Gute gewinnt immer. 
Dieses Mal müssen wir sicherstellen, dass die Menschheit auf ihrem Weg keinen dafür Preis zahlen muss! Lasst uns sicherstellen, dass zukünftige Generationen sich nicht mit ›Was wäre wenn?‹ auseinandersetzen oder gar darüber nachdenken müssen.«

Ori Millo
– Enkel von Franz Mühlhauser (Efraim Millo) und Urenkel von Marie und Albert Mühlhauser († August 1942 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau) sowie von Sigmund Dreyfuss († 26. August 1942 in Wiesbaden) –

Statement von Stav Elias

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Liebe Brüder und Schwestern,
obwohl ich nicht für alle Juden oder für alle israelischen Bürger sprechen kann, möchte ich dennoch ein paar Gedanken mit Euch teilen, von denen ich weiß, dass einige von uns sie haben.
Für das jüdische Volk – die Söhne Jakobs und die Schüler Moses – liegt die Vergangenheit nie in der Vergangenheit. Wir halten Ägypten nicht vor, dass es uns versklavte – aber wir erinnern uns daran und haben daraus gelernt. Dasselbe gilt für die Schrecken, die wir durch Nazi-Deutschland erlebt haben. Wir werden uns noch ewig daran erinnern, aber die Enkelsöhne und Enkeltöchter der Überlebenden, die Nachgeborenen, halten dem deutschen Volk diese Verbrechen nicht vor – darin werden mir die meisten von uns zustimmen.
Wir erkennen die Fähigkeit der Menschheit an, sich zu verbessern, zu lernen und die Welt zu einem bessern Ort zu machen. Wir geben unser Bestes darin, unsere Nachbarn zu lieben und darauf zu vertrauen, dass dies auch für das deutsche Volk gilt. Aber nochmal: Wir vergessen nicht. Wenn wir weltweit kleine oder große Wellen von Neonazis sehen, sind wir darauf vorbereitet, ihnen zu widersprechen und wenn nötig, sie zu bekämpfen (und wir neigen dazu, mit unserem Verstand und unserem Herzen zu kämpfen). Antisemiten – vor allem in und um Deutschland – sind eine lebendige Erinnerung einer nicht so fernen Vergangenheit.
Israel als Land wird immer eng an die deutsche Geschichte gebunden sein und wir sind beides – ein lebendiges Denkmal für den moralischen Tiefpunkt des deutschen Volkes, als auch für Euer bestes Potenzial: die Überwindung Eurer Vergangenheit und dem Zahlen Eurer Schuld (auch buchstäblich, da ich weiß, dass viele Neonazis dies ständig anbringen)
Doch es gibt immer subtile Wege und Gründe für Hass. Da wir alle nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, müssen wir auch alle versuchen, diesem Standard der Vergebung und der Barmherzigkeit gerecht zu werden. Wir müssen erkennen, dass Hass uns als Individuen oder Nationen nicht auf einen guten Weg führen kann. Von daher kann und werde ich die Tatsache nicht beiseite lassen, dass viele das Land Israel – geboren aus dem Holocaust – als ein Land von Kriegsverbrecher betrachten. Viele wagen es sogar, uns mit Nazi-Deutschland zu vergleichen, aber dieser Vergleich und Denkprozess ist meist nur möglich, wenn man die Lehren des 3. Reiches verinnerlicht hat – und das führt für alle Beteiligten zu schrecklichen Taten…
Der Staat Israel ist jung, wenn Ihr uns mit irgendeinem anderen Land vergleichen möchtet, versucht uns mit denen zu vergleichen, die ihre Unabhängigkeit auch in den letzten 100 Jahren erlangt haben – insbesondere mit den Ländern des Mittleren Ostens. Im Vergleich zu gleichaltrigen Staaten und den kriegsermüdeten europäischen Nationen – die tausend Jahre Zeit hatten, den Hass zu überwinden – stehen wir nicht schlecht da. Wir sind ein Land, das versucht zu überleben und zu prosperieren und wir sind auf einem guten Weg.
Israel und Deutschland sind eng in der gegenseitigen Geschichte miteinander verbunden und so wird es auch zukünftig sein – im Guten wie im Schlechten. Für jeden, der meine Worte liest oder hört: Seid Euch bewußt, dass Liebe immer siegt, Hass einem immer aufhält – und wenn Ihr die Geschichte betrachtet, wisst Ihr, dass das eine Tatsache ist. Die Menschheit macht Fortschritte in Richtung Frieden und Harmonie, doch beides kann sich erst einstellen, nachdem wir den Hass aus unseren eigenen Herzen und Ländern überwunden haben.
Als Enkel einer Holocaust-Überlebenden wünsche ich Euch allen, dass Ihr Liebe findet, Hass und Angst überwindet und glücklich sowie gesund seid.

Stav Elias
– Enkel von Nofi Katz und Urururenkel von Lazarus Scharff († 10. November 1940 im Internierungslager Camp de Gurs) –

Ori Millo

English version.

Speyer is my hometown. Although I was not born here, I did not grow up here or lived here. My grandfather did. Franz Mühlhauser, Efraim Millo.
In a better world, my grandfather would have stayed in Speyer, and establish his family here, including me. However, that did not happen. My grandfather, like many Jews in Speyer and in the rest of Germany, had to flee from his home, his friends and the life he had built for himself in Speyer. Efraim fled in the beginning of November 1938 and arrived in Israel just a couple of days before November 9th, Kristallnacht, the November Pogrom.
The adjacency of my grandfather’s fleeing for his freedom, to the November pogrom makes this date somewhat unique – between the relieved feeling that he was safe, and the catastrophic fact that humanity has paused, and organized evil took its place. Whenever I think about these events, it keeps raising the question of ›What if?‹

›What if my grandfather waited a few more days?‹
›What if his family came with him?‹

My grandfather’s family did not flee with him. His parents Marie and Albert and his 22 years old sister, Klara, remained in Speyer, hoping to be reunited later on. Marie was part of the Dreyfuss family, a family that was very much involved in city life. Albert, who was born and raised in Krumbach in Swabia, quickly blended in. He was very much involved and elected as the chairman of the synagogue board. The synagogue on which ruins we now stand. Sigmund Dreyfuss, Marie’s father, who was a part of a large and long lineage family in Speyer had a successful business for textile in Maximilianstraße 38, ›M. Dreyfuss & Söhne‹.
On October 22nd, 1940, Marie, Albert, and Klara were deported from Speyer. Marie’s sister Hedwig and her husband Jacob as well as all Jews from Rhineland-Palatinate were also deported. First to the Gurs camp, and in August 1942, they were exterminated in Auschwitz.
Sigmund managed to escape from Speyer on the night of the November pogrom. At the age of 83 years, he found himself alone in Wiesbaden. Sigmund took his own life the day before he was to be taken to Theresienstadt camp.
We live in a time where the past events seem far away, almost as if they do not relate to us or concern us. The opposite is true!
The current era of social media makes it easier than ever to spread hate, racism and antisemitism, and unfortunately, we can see that this also turns to actions.
It is each person’s obligation and responsibility to oppose racism and antisemitism actively whether by reporting such posts encountered in social media, by publishing sources of truth and by educating people around you.
The city of Speyer is doing a remarkable effort to commemorate the holocaust and the lives it took, including my family’s lives. Enterprising volunteers operate in various ways such as writing books and articles, leading Jewish sites tours in the city, conducting archival research, returning stolen items to families, and in recent years also by the blessed enterprise of placing the memorial stones – Stolpersteine – throughout the city. We have been privileged to be the first family in Speyer that such stones were laid at the entrance to the house of Marie, Albert and Klara at Hartmannstraße 26, today Schraudolphstraße.
This empowers Speyer to create a healthy society that my family and I can feel a part of.
Remember, the good always wins.
This time we need to make sure that humanity does not pay any price on the way! Let us make sure that future generations do not have to deal or even think about ›What if?‹«

Ori Millo
– Grandson of Franz Mühlhauser (Efraim Millo) und Greatgrandson of Marie and Albert Mühlhauser († August 1942, Auschwitz-Birkenau) and of Sigmund Dreyfuss († 26. August 1942, Wiesbaden) –

Stav Elias

English version.

Dear brothers and sisters,
while I can’t speak for all the Jews, or for all the Israeli citizens, I can share a few thoughts I know some of us have.
First, for the Jewish people, sons of Jacob and students of Moses – the past is never in the past. We do not resent Egypt for enslaving us, but we remember and learn from it what we can. The same applies for the horrors Nazi Germany put us through. We will remember it forever, but the grandsons and granddaughters of the survivors and anyone younger – I think most of us agree we do not resent the German people for those crimes.
We acknowledge humanity’s ability to improve, learn and make the world better. We do our best to love our neighbors and trust that the same applies to the German people. But again, we do not forget. When we see small and big waves of Neo-Nazis worldwide we are prepared to speak against them and fight if need be (and we tend to fight with our minds and heart). Those anti-Semites, especially in Germany or around it, are a living reminder of a not so distant past.
Israel, as a country, will always be tied to German history, and we are both a living monument to the lowest of the low of the German people – as well as to your best potential of overcoming your past and paying your dues (even literally, as I know many Neo-Nazis bring up constantly).
But there are always subtle ways to hate and reasons too. As we are all made in the image of God so must we all try and live up to that standard of forgiveness and mercy. We must recognize that hate cannot lead us to good places as individuals or nations. Thus – I cannot and will not put aside the fact that many consider the country of Israel – born from the Holocaust – a country of war criminals. Many even dare compare us to Nazi-Germany, but that comparison and thought process is mostly possible only if you follow the teachings of the 3rd Reich, and that leads to terrible deeds for everyone involved…
The state of Israel is young, if you wish to compare us to any other country try comparing us to others who got their independence in the last 100 years, especially middle-eastern countries. When compared to our peers rather than the war-weary European nations who had a thousand years to overcome the hate, we’re doing great all around. We are a country trying to survive and prosper, and we do it well.
Israel and Germany are tied in the bonds of mutual history, and thus our future is also mutual for better and for worse. For anyone reading or hearing my words – know that love always wins out, hate always falters, and if you look at history you know this to be a fact. Humanity makes progress towards peace and harmony, but it always comes after overcoming hate from within our own hearts and countries.
As a grandson of one Holocaust survivor I wish for you all find love, overcome hate and fear, and be prosperous and healthy.
Stav, son of Moses, of Israel.

Stav Elias Katz
– Grandson of Nofi Katz und Greatgreatgreatgrandsohn of Lazarus Scharff († 10. November 1940, Camp de Gurs) –